3. Leseprobe Whisper of Sins

Beim Abendessen schiebe ich die Erbsen auf meinem Teller umher und beobachte aus den Augenwinkeln unseren Gast. Er sitzt neben meinem Vater, der am Kopfende des Tisches thront und sich mit Elijah unterhält. Er gibt sich sichtlich Mühe, dass der Gesandte sich wohlfühlt. Ein gut gelaunter Gast fällt seinen Gastgebern seltener in den Rücken.
Lexie musste leider schon gehen, aber immerhin habe ich es mittlerweile geschafft, zu duschen und den Gestank loszuwerden.
Meine Tante scharwenzelt unentwegt um Elijah herum, füllt seinen Teller gerade erneut mit Kartoffeln, Soße und Fleisch. Jeder hier weiß, dass sie äußerst streng ist, wenn sie in anderen Gemeinden als Gesandte auftritt. Für sie ist es eine Ehrensache, auf all die kleinen Details aufmerksam zu machen, die man als Clan einzuhalten hat – und das gilt nicht nur für die Feierlichkeiten wie an Jultria und Malvere. Nein, das Haus hat stets sauber und ordentlich zu sein und die Manieren müssen stimmen. Es ist zudem darauf zu achten, dass genügend menschliche Gegenstände in der Stadt zu finden sind, um den Schein zu wahren, falls sich ein Mensch dorthin verlaufen sollte. Ein paar Autos als Deko hier, ein paar Straßenlaternen dort. Es gibt jedenfalls eine ganze Liste von Dingen, auf die ein Clan achten muss. Genau darum fühlen sich diese Besuche auch stets wie eine unendlich lange Prüfung an.
Allerdings lässt sich dieser Elijah bisher nicht anmerken, was in seinem Kopf vorgeht. Besonders meine Tante scheint dies immer nervöser zu machen. Gerade springt sie auf, als sie sieht, dass die Weinkaraffe leer ist.
»Ich gehe sofort und hole neuen. Hat er Ihnen denn geschmeckt? Oder wollen Sie lieber etwas anderes probieren? Wir hätten da noch etwas ganz Besonderes. Vermutlich hätte ich ihn gleich anbieten sollen: einen wundervollen Château Pétrus aus dem Jahre 1961.«
Ich reiße die Augen auf. Nicht, dass ich eine große Weinkennerin wäre, aber ich weiß natürlich um die ganz besonderen Schätze in unserem Keller. Jede Clan-Familie hat solche Gegenstände. Sie dienen einzig und allein dazu, das Prestige der Familie zu erhöhen, und werden den Gesandten darum präsentiert. Der Wein gehört zu den teuersten der Welt, und gerade dieser Jahrgang ist unter Sammlern extrem begehrt. Meine Tante muss wirklich angespannt sein, wenn sie schon jetzt auf solche Geschütze zurückgreift.
Ich nehme einen Schluck aus meinem Wasserglas und beobachte das Schauspiel. Diese ganze Prozedur ist im Grunde so lächerlich. Zwar hat jede Familie diese Besonderheiten, die sie den Gesandten anbietet, aber es ist ein ungeschriebenes Gesetz, dass das Angebot niemals angenommen wird. Das Ganze dient lediglich dazu, den Wohlstand zu präsentieren. Der Gesandte soll ihn sehen und anerkennen, mehr nicht. Elijah wird also gleich große Augen machen, die Weinflasche bewundern, irgendetwas zu unserem vorzüglichen Geschmack sagen, aber höflich ablehnen und um eine andere Flasche bitten. Es ist immer dasselbe traurige Spiel.
Meine Tante erscheint mit dem Wein und präsentiert ihn Elijah mit einem breiten Lächeln. Er mustert die Flasche und nickt anerkennend.
»Ein ganz besonderer Tropfen«, stellt er fest.
»Wollen Sie einen Schluck?«, fragt Tante Lourdes pflichtschuldig.
»Hört sich gut an. Gerne«, antwortet Elijah.
Ich verschlucke mich dermaßen, dass ich das Wasser fast quer über den Tisch spucke. Das hat er nicht getan. Er lässt sich nicht wirklich einen 17.000 Dollar teuren Wein servieren und verstößt damit gegen die ungeschriebenen Regeln. Aber sie sind eben ungeschrieben. Keiner kann was sagen.
»Alles in Ordnung?«, will Elijah wissen und schenkt mir ein wohlwollendes Lächeln.
Entweder will der Typ es sich hier mal richtig gut gehen lassen, oder er hat absolut keine Ahnung, was er da gerade macht. Dieses Blitzen in seinen Augen und der amüsierte Ausdruck auf seinen Lippen scheinen mir allerdings eher dafür zu sprechen, dass das alles Absicht ist.
»Sie haben einen erlesenen Geschmack«, stellt Meg fest. Eine kleine Falte hat sich in ihre Stirn gegraben. Ich kenne dieses Zeichen nur zu gut: Meg ist sauer. Innerlich jubele ich und würde am liebsten den Arm in die Luft reißen, um meine Schwester anzufeuern. Wie schön, dass einmal nicht ich Ziel ihres Zorns bin. Elijah wird sich warm anziehen müssen. Mit Meg ist nicht zu spaßen.
»Ebenso wie Sie«, gibt Elijah zurück. »Sie servieren nicht nur die edelsten Gerichte und Weine, auch Ihre Einrichtung zeugt von großartigem Geschmack. Sie nehmen Ihre Aufgaben und die Verantwortung sehr ernst. Das freut mich wirklich zu sehen. Gäbe es nur mehr Clans, die ihre Pflichten so vorbildlich erfüllen würden. Und man kann auch sehen, wie sehr Ihre Familie zusammenhält.«
Elijah hebt sein Glas, prostet uns zu und trinkt den letzten Rest Wein aus seinem Glas.
»Sie sind zu freundlich«, antwortet meine Mutter. »Ich konnte in den Runen lesen, dass es Ihnen bei uns sehr gut gefallen wird und Sie Ihre Aufgabe bestens erfüllen werden.«
Ich verdrehe die Augen. Muss sie ihm Honig ums Maul schmieren? Vor allem nach der Nummer gerade?
»Erzählen Sie uns doch ein wenig über sich. Ist es in Ihrer Familie nicht üblich, dass man einander unterstützt und Hand in Hand arbeitet?«, will Meg wissen. Ihre Augen sprühen Funken. Irgendetwas scheint Elijah an sich zu haben, das sie reizt. Und ich kann sie absolut verstehen.
»Oh, wir schätzen einander sehr.« Er legt die Hände ineinander und stützt sein Kinn darauf ab. »Auch bei uns hat jeder einen bestimmten Bereich, für den er zuständig ist. Vielleicht tauschen wir uns aber weniger miteinander aus. Ich finde es jedenfalls faszinierend, zu sehen, wie harmonisch und offen Sie miteinander umgehen. Ich vermute, dass Sie einander alles erzählen und es keine Geheimnisse zwischen Ihnen gibt.« Dieses Mal sieht er eindeutig in meine Richtung. »Aber das wäre vermutlich ohnehin nicht möglich. Bei solch einer begabten Hellseherin.« Er strahlt meine Mutter an, die ein wenig rot wird.
»Es freut mich sehr, dass Sie sich wohlfühlen«, erwidert mein Vater mit einem zufriedenen Lächeln.
Während Tante Lourdes die Flasche öffnet, kann ich nur eines denken: 17.000 Dollar zum Fenster rausgeworfen.
Sie gießt ein, und ein Teil der 17.000 Dollar verschwindet in einem Zug in der Kehle des jungen Mannes. Wir hängen mit den Augen an seinen Lippen und beobachten jeden Schluck.
Schließlich setzt er das Glas wieder ab. »Wirklich sehr köstlich.«
Meine Tante nickt mit zusammengekniffenen Lippen und versucht, sich nichts anmerken zu lassen.
»Tja, also wenn der Wein schon mal offen ist«, sagt Will und greift nach der Flasche.
Sofort ist Lourdes zur Stelle und gibt ihm einen Klaps auf den Hinterkopf. »Untersteh dich!«, zischt sie. »Das hier ist für unseren Gast.«
»Du willst, dass er allein eine Magnumflasche trinkt? Na, da steht ihm ja noch ein lustiger Abend bevor«, antwortet Will leise, woraufhin ihm Tante Lourdes einen warnenden Blick zuwirft.
»Es ist wirklich wundervoll, wie gut Sie sich alle verstehen«, erklärt Elijah. Meint er das ironisch?
Meg scheint es jedenfalls genauso aufzufassen. Sie wirft ihm einen wütenden Blick zu. »In der Tat tun wir das. Genau darum sollte sich auch niemals jemand mit uns anlegen.«
»Meg«, warnt mein Vater, aber Elijah ignoriert seine Warnung.
»Keine Sorge, ich bin nur hier, um meinen Auftrag zu erfüllen. Ich bin mir sicher, an meiner Stelle würden Sie nicht anders handeln und ebenfalls Ihr absolut Bestes geben. Genauso werde ich es auch handhaben.«
Die beiden funkeln einander an, und ich kann die aufgeladene Atmosphäre zwischen ihnen spüren. Allzu sehr mögen die zwei sich offenbar nicht.
»Noch ein paar Kartoffeln?«, fragt meine Tante. Selten habe ich sie so angespannt und unsicher erlebt. Ich bin mir jedenfalls sicher, dass Kartoffeln die Situation nicht retten können.

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